Kritik am Projekt "Tagesschule 2025"

Gegen das Sparprogramm «Tagesschule 2025» in der Stadt Zürich und für eine starke, solidarische Bildung und Betreuung.

6. April 2022 

Mit der Einführung des Projektes «Tagesschule 2025» in der Stadt Zürich leiden Bildung und Betreuung ein weiteres Mal unter einem Sparkurs. Geplant sind Ressourcenkürzungen, das Einsparen von tertiär ausgebildetem Betreuungspersonal und prekäre Arbeitspensen in der Betreuung. Obwohl die Pilotschulen stärker finanziert wurden, als dies später bei der flächendeckenden Einführung der Tagesschule der Fall sein wird, fällt das Resultat bereits im Evaluationsbericht ernüchternd aus. Auf Einwände des Personals nach der Pilotphase wurde nicht ausreichend eingegangen.

Das Projekt «Tagesschulen 2025» verspricht, neben wirtschaftlicher Organisation von Unterricht und Betreuung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bessere Bildungschancen und die Förderung und Integration aller Schüler*innen. Die Umsetzung scheint allerdings hauptsächlich der wirtschaftlichen Optimierung zu dienen.

Bildung ist kostbar.
Betreuung ist kostbar.

Die aktuelle Vorlage zur definitiven Einführung der Tagesschulen, welche am 3. Juli 2022 zur Abstimmung kommt, führt auch zu massiven Qualitätseinbussen für Kinder und Personal. Das Kollektiv Kritische Lehrpersonen unterstützt sämtliche Forderungen des VPOD, der Kriso und der Fachgruppe Betreuung des Schulkreises Limmattal.

Wir, als Lehrpersonen, sehen Handlungsbedarf in folgenden Bereichen:

1. Wohlbefinden der Schüler*innen


Den ganzen Tag in einer Tagesstruktur zu verbringen, stellt für Kinder eine Höchstleistung dar. Sie sind ohne Unterbruch gefordert und haben keine oder nur wenige Rückzugsmöglichkeiten. Problematisch ist dieser Umstand vorallem für Kinder mit sonderpädagogischen Bedürfnissen und/oder für Kinder, die unter sozialer Ausgrenzung leiden.
Damit das soziale Lernen unterstützt werden kann, müssen die Kinder und Jugendlichen von ausgebildeten Sozialpädagog*innen betreut und begleitet werden. Kinder, die im Unterricht durch Klassenassistenzen oder Heilpädagog*innen begleitet werden, benötigen auch in der Betreuung zusätzliche Ressourcen.

Wir fordern:

  • ausreichende Rückzugsorte für Schüler*innen
    Aktivitäten, die Schüler*innen mitgestalten können
  • Ausbau räumlicher, personeller und zeitlicher Ressourcen


2. Chancengerechtigkeit?

Im aktuellen Schulsystem hat Bildung primär die Funktion, die Schüler*innen auf ihre Zukunft als Arbeitskräfte vorzubereiten, welche die Wirtschaft wettbewerbsfähig halten sollen. Die Schule selektioniert früh und legitimiert Ungleichheit innerhalb unserer Gesellschaft. Chancengerechtigkeit zu fördern, wie dies die «Tagesschule 2025» verspricht, würde das systematische Ausgleichen von unterschiedlichen Startchancen im Bildungssystem bedeuten. «Chancengerechtigkeit» ist eines der zentralen Versprechen der Tagesschule und findet breite Akzeptanz. Die Auswirkungen der Tagesschule auf gerechtere Bildungschancen lassen sich schwer erheben und so verkommt das Versprechen zu einer leeren Worthülse. Wie das Erreichen dieses ambitionierten Ziels mit Ressourcenkürzungen in der Betreuung vereinbar ist, bleibt keine offene Frage: Gar nicht. Wollen wir eine Schule und Gesellschaft in der gerechtere Bildungschancen möglich sind, reicht es nicht, alle Schüler*innen gemeinsam Mittag essen zu lassen und die Hausaufgaben in die Struktur der Tagesschule zu integrieren.

Wir fordern:

  • eine kritische und vertiefte Auseinandersetzung mit den Begriffen ‘Chancengerechtigkeit’ und ‘Bildungschancen’
  • Bestrebungen und Ressourcen, um Startunterschiede im Bildungssystem systematisch auszugleichen
  • strategische Unterstützung der frühkindlichen Förderung und Einbindung der Kitas ins Bildungssystem


3. Auswirkungen der Ressourcenkürzungen

Durch die Ressourcenkürzung in der Betreuung über den Mittag, werden qualitative Einbussen in Kauf genommen. Kann das Betreuungspersonal über Mittag ihren (sozial)pädagogischen Aufgaben nicht mehr richtig nachgehen, leidet der Unterricht. Fehlt es nämlich an Personal, fallen Betreuungsaufgaben auf die Lehrpersonen zurück. Die Mittagspause dient auch der Erholung. Können sich die Schüler*innen über Mittag nicht mehr ausreichend entspannen, kommen sie müde in den Nachmittagsunterricht, worunter schliesslich die Aufnahmefähigkeit der Kinder leidet.

Zusätzlich führen die teils prekären Arbeitsbedingungen (schlechte Bezahlung, Kleinstpensen etc.) zu einer hohen Fluktuation unter dem Betreuungspersonal. Dies wiederum bedeutet, dass den Schüler*innen längerfristige Bezugspersonen fehlen.
Die Lehrpersonen kompensieren diese Umstände, somit bleibt weniger Zeit sich den Unterrichtsinhalten und der Förderung von Schüler*innen zu widmen.

Wir fordern:

  • einen Stopp der Ressourcenkürzungen in der Betreuung*
  • einen Stopp der Reduktion pädagogisch ausgebildeten Personals*
  • Arbeitsbedingungen, die eine würdige Existenz auch für Alleinverdienende ermöglichen*
  • ausgebildete Sozialpädagog*innen und Beständigkeit bei Bezugspersonen
  • einen kinder- und personalgerechten Betreuungsschlüssel

*Diese Forderungen haben wir vom VPOD, sowie der Fachgruppe Leitung Betreuung des Schulkreis Limmattal übernommen.


4. Austausch Betreuung und Schule

Im Projekt «Tagesschule 2025» wird die intensivierte Zusammenarbeit zwischen Lehr- und Betreuungspersonen als gewinnbringender pädagogischer Faktor beschrieben. Die Rollen, Aufgabenbereiche und Anstellungsbedingungen von Lehrpersonen und Betreuungspersonal unterscheiden sich. Für eine konstruktive Zusammenarbeit dieser verschiedenen Funktionen braucht es regelmässigen Austausch.
Dieser interprofessionelle, pädagogische Austausch zwischen Betreuungs- und Lehrpersonen wird im Projekt ‹Tagesschule 2025› gross angepriesen, ist jedoch schlecht geregelt. Dieser findet laut Evaluationsbericht hauptsächlich bilateral statt. Geeignete Zeitfenster zum Austausch sind schwierig zu finden, da sich betreuungs-/unterrichtsfreie Zeiten nicht überschneiden. Im Projekt ‹Tagesschule 2025″ werden somit die Organisation der Zeitfenster und die notwendige Arbeitszeit nicht berücksichtigt.

Wir fordern:

  • dass Zeitfenster für den Austausch im Tagesschulalltag eingeplant werden
  • eine Verankerung der Zeitfenster für den Austausch in den jeweiligen Anstellungsbedingungen und als Arbeitszeit


5. Mehrbelastung der Lehrpersonen

Der Kompetenzbereich der Lehrpersonen hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich erweitert. Der Austausch mit Eltern, Schulleitung, und weiteren Fachpersonen (Logopäd*innen, Heilpädagog*innen, Schulpsycholog*innen etc.) ist vor allem für Klassenlehrpersonen sehr zeitintensiv. Die im Berufsauftrag festgelegten Zeitgefässe decken lediglich einen Bruchteil der erforderlichen Zeit ab. Dies bedeutet eine hohe Anzahl unbezahlter Überstunden. 100% Pensen sind selten geworden und unter diesen Rahmenbedingungen kaum zu schaffen.

Die hohen Anforderungen führen dazu, dass bei Lehrpersonen eine hohe Gefährdung für ein Burnout besteht. Seit Jahren herrscht ein akuter Mangel an Lehrpersonen. Ein Grossteil der neuen Lehrpersonen gibt den Beruf nach nur wenigen Jahren wieder auf.

Durch die gekürzten Mittage wird den Lehrpersonen weitere wertvolle Erholungs- und Vorbereitungszeit gestrichen. Zusätzlich führt die durchgehende Präsenz der Schüler*innen zu einer weiteren Beanspruchung der Lehrpersonen. Ein weiteres Problem stellt die nicht ausreichende Infrastruktur dar, wodurch wichtige Rückzugsmöglichkeiten und Arbeitsräume für Lehrpersonen wegfallen. Eine Gefährdung der Gesundheit von Lehrpersonen wird somit in Kauf genommen.

Wir fordern:

  • eine Reduktion der Aufgaben in Berufsauftrag bei gleichbleibendem Lohn
  • eine Infrastruktur mit ausreichend Arbeits- und Rückzugsmöglichkeiten


Fazit:

Um die versprochenen Ziele des Projekts tatsächlich umzusetzen, muss ein grundlegendes Umdenken bezüglich Bildungspolitik stattfinden. Bildungs- und sozialpolitische Themen, sowie die Arbeitsbedingungen des Personals dürfen nicht dem Kriterium der Wirtschaftlichkeit unterstellt werden. Nur wenn Bildung und Betreuung im gleichen Masse gesamtgesellschaftlich und politisch wertgeschätzt werden, kann eine Tagesschule funktionieren. Denn eine Tagesschule ohne den bewussten Ausbau von Ressourcen ist bereits zu Beginn zum Scheitern verurteilt.
Das Kollektiv Kritische Lehrpersonen fordert eine Tagesschule, in der dem Lehr- und Betreuungspersonal Sorge getragen wird und die Bedürfnisse von allen Kindern und Jugendlichen ins Zentrum gestellt werden.

6. April 2022
Kollektiv Kritische Lehrpersonen

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