Sexualpädagogik

Unser Verständnis von Sexualpädagogik und unsere Ansprüche daran

Anmerkungen zur Sprache
Wir verwenden im folgenden Text den Genderstern* in der Mitte von beispielsweise Schüler*innen, um die Binarität von Geschlecht aufzubrechen und auf die Vielfalt von Geschlecht hinzuweisen. Als Kürzel des Schulfachs «Natur Mensch und Gesellschaft» verwenden wir NMG. Der Text enthält Fremdwörter und Begriffe, die in Antidiskriminierungs- und Ermächtigungsdiskursen sowie in der zeitgenössischen Sexualpädagogik wichtig sind. Wir orientierten uns an folgenden Wörterbüchern und empfehlen, in diesen nachzuschlagen, wenn im Text einzelne Begriffe unklar bleiben.

🔗 Wörterbuch, Verein Diversum
🔗 Glossar Break Free, SAJV – CSAJ, Milchjugend

Wir, die diesen Text verfasst haben, unterrichten in Kindergärten und Schulen und sind Teil des Kollektivs Kritische Lehrpersonen (kollektiv krilp). Einige von uns studieren Gender Studies und eine Person ist Sexualpädagogin. Wir sind im schulischen Alltag mit den Themen Identität, Sexualität, Gender, Körper, Beziehungen und Konsens konfrontiert. In unserem Austausch ist das Bedürfnis entstanden, ein gemeinsames Verständnis und eine Haltung zu den Themen, die in der Schule Namen wie «Aufklärungsunterricht» oder «Sexualkunde» tragen, zu formulieren. Wir möchten Veraltetes und Überholtes ablösen, indem wir traditionelle Unterrichtsinhalte um zentrale Themen erweitern und korrekte Begriffe etablieren.

Überblick / Begriffe
Ein breit gefasster Begriff von Sexualität umfasst theoretische, emotionale und soziale Aspekte rund um körperliche Entwicklung, Anatomie, Geschlecht, Identität, Beziehungen, Lust, Abneigung und Grenzen. Aufgrund der Relevanz dieser Themen für jeden Menschen ist eine Auseinandersetzung damit für die psychische und physische Gesundheit und Entwicklung aller Kinder wichtig. Das Themenfeld ist breit und es ist dabei zentral, die unterschiedlichen Aspekte als verwoben und einander beeinflussend zu verstehen. Gewisse Aspekte der Sexualität sind für viele Menschen schambehaftet, zum einen durch Stigmatisierung, zum anderen, weil sie sehr privat sind. Gerade deshalb ist es für einen verantwortungsbewusst geführten Unterricht unbedingt wichtig, dass sich Lehrpersonen mit Aspekten der Sexualität und der Sexualpädagogik auseinandersetzen und eine professionelle und aufgeschlossene Haltung entwickeln. Dies muss Bestandteil von Aus- und Weiterbildungen für Lehrpersonen sein.

Gender, Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck
Die Geschlechtsidentität bezeichnet die Wahrnehmung und das Wissen eines Menschen bezüglich des eigenen Geschlechtes. Die Geschlechtsidentität kann dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprechen (cis), sich davon unterscheiden (trans) und/oder auch mit keinem der binären Geschlechter übereinstimmen. Personen, die sich nicht mit einem der binären Geschlechter (männlich oder weiblich) identifizieren, bezeichnen sich selbst oft als non-binär. Es gibt auch Personen, die sich von dem Konstrukt Geschlecht komplett lösen und sich als agender bezeichnen.

Der Geschlechtsausdruck (gender expression) steht für die äussere Erscheinung einer Person, beispielsweise Kleidung, Frisur, (kein) Make-up, Sprache, Begrüssungsrituale, Gangart, Verhalten, Namen oder Pronomen. Der Geschlechtsausdruck kann der Geschlechtsidentität entsprechen, muss aber nicht.

Viele von uns sind sich gewohnt, vom Geschlechtsausdruck eines Menschen sehr direkt die Geschlechtsidentität abzuleiten. Es ist wichtig, dass wir dabei sensibel sind und diese oftmals automatisierte „Schubladisierung“ wieder verlernen. Denn Menschen, besonders auch Kinder, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht in eine der binären Schubladen passen, werden oft als anders angesehen und behandelt (othering), was verletzend und diskriminierend sein kann. (Bsp_1)

Bsp_1
Es ist wichtig, sich zweimal zu überlegen, wann das Geschlecht ein Thema oder Kriterium für etwas sein soll (Gruppenbildung, Sitzordnung, Kategorien am Sporttag, etc.). Dabei ist unbedingt auch an trans Kinder, inter Kinder und non-binäre Kinder zu denken – sie sind oft nicht «geoutet», sitzen aber in unseren Klassen.

Sexualpädagogik – Identität, Körper und Sexualität – Pädagogik vielfältiger Lebensweisen und Geschlechternormen
Jutta Hartmann regt mit ihrer Pädagogik vielfältiger Lebensweisen eine pädagogische Haltung an, die sich daran orientiert „vorherrschende Identitätsannahmen und Normalitätsvorstellungen produktiv zu irritieren, die Dualitäten von Geschlecht und Sexualität zu verflüssigen sowie deren Konstruktionsmechanismen und normative Rahmung zum Gegenstand pädagogischer Auseinandersetzung zu machen“ (Hartmann, 2017, S. 76).

Ein differenzierter NMG Unterricht zum Thema Sexualität, also Identität, Beziehung, Gefühle, Körper, Geschlecht, Lust, Abneigung und Grenzen, enthält die von Hartmann erwähnten Aspekte. Der oft gebrauchte Begriff der «Sexualkunde» wird einem solchen Unterricht nicht gerecht. Gleichzeitig fehlt es momentan an Begriffen, welche die obige Aufzählung umfassen. Unsere Vorschläge wären «Sexualität und Identität» oder «Identität, Körper und Sexualität». Aber auch diese repräsentieren die Bandbreite des Themenfeldes ungenügend, erweitern aber den Bezugshorizont.

Sexualität ist in unserem Leben identitätsstiftend und begleitet uns von der Geburt bis zum Tod. «Identität, Körper und Sexualität» ist folglich nicht einfach ein NMG Thema für drei bis vier Wochen auf der Mittelstufe und schon gar kein aufregendes Happening für einen Nachmittag, sondern begleitet uns täglich im Unterricht, ob wir es wollen oder nicht. Wir finden, es ist Aufgabe der Lehrperson, Gesichtspunkte von «Identität, Körper und Sexualität» bei der Unterrichtsplanung mitzudenken, während dem Unterricht spontan zu erkennen und kompetent zu behandeln. Besonders auch dann, wenn die Aspekte implizit gegenwärtig sind und gegenüber den Kindern nicht als solche benannt oder thematisiert werden. (Bsp_2)

Heteronormativität und Geschlechterklischees sollen in der Schule nicht reproduziert, aber unbedingt thematisiert und kritisch besprochen werden. Es wirkt einer Stigmatisierung entgegen, wenn Kinder während ihrer Schulzeit unterschiedliche und vielfältige Lebensweisen begegnen. (Bsp_3)

Bsp_2
In jedem Unterrichtsfach wird mit Geschichten gearbeitet, in welchen uns klischierte Geschlechterrollen und vorwiegend heteronormative Perspektiven begegnen. Lehrpersonen sind aufgefordert, Überrepräsentationen zu erkennen und Geschichten für ihren Unterricht bewusst auszusuchen oder sie teilweise abzuändern (Geschlechterrollen tauschen, Familienkonstellationen abändern, bei eigenen Beispielen bewusst mit Klischees brechen, etc.).

Bsp_3
Im Schulfach Sport sollten verschiedene Themen, die wir der Sexualität zuordnen, immer wieder ein Thema sein; körperliche Entwicklung, Körperkontakt, Grenzen, etc. Wenn in der Musik zeitgenössische Popmusik besprochen wird, gehört das Thema Geschlechterrollen dazu. Im Bildnerischen Gestalten sollte bei Bildbetrachtungen unbedingt auch darüber gesprochen werden, wer wen wann wie abbildet. Gespräche, Übungen und Spiele zu persönlichen Grenzen, Lust, Abneigung, Beziehungen und den eigenen Gefühlen sollten in jedem Unterricht von früh an dabei sein.

Sprache, Fragen und Antworten
Eine Lehrperson sollte sich der Wirkungsmacht ihrer eigenen Sprache bewusst sein. Es ist wichtig, zu gendern und wenn möglich, geschlechtsneutrale Formen zu verwenden. Diskriminierendes Verhalten von Schüler*innen sollte konsequent angesprochen, nicht akzeptiert und diskriminierende Aussagen sollten immer wieder thematisiert werden. (Bsp_4)

Der Wissenstand und die Interessen an Themen rund um Sexualität und Identität sind auch bei Kindern ähnlichen Alters oft sehr unterschiedlich. Bei Fragen, die in der Klasse gestellt werden, muss eventuell abgewogen werden, ob die Antwort für die ganze Klasse relevant und geeignet ist, oder ob sie mit der*dem fragenden Schüler*in einzeln besprochen werden sollte. Von Lehrpersonen ist hier eine grosse Sensibilität gefordert. Lehrpersonen können sich aber immer auch die Freiheit nehmen, Fragen nicht sofort zu beantworten, sich eine Antwort zuerst zu überlegen, etwas zu recherchieren oder mit einer Fachperson zu besprechen.

Bei der Intimität gewisser Bereiche soll die Lehrperson sehr bewusst Nähe und Distanz vorgeben; ihre eigene Sexualität weitestgehend aussen vor lassen, sachlich und mit korrekten Begriffen Themen besprechen, Fragen beantworten und Kinder nicht mit Details (die nicht erfragt wurden) oder zu vielen Informationen überfordern.

Bsp_4
Wenn Schüler*innen „schwul“ als Schimpfwort benutzen, ist konsequent darauf hinzuweisen, dass das kein Schimpfwort ist und deshalb nicht als solches benutzt werden darf. Dabei soll thematisiert werden, was schwul bedeutet, wieso es immer noch als Schimpfwort gebraucht wird und wieso dies nicht zu akzeptieren ist.

Provokation oder Interesse?
Kinder wissen schon früh, dass das Thema Sexualität eine Brisanz hat und dass sie damit Erwachsene und andere Kinder provozieren und verunsichern können. Gleichzeitig haben Kinder echtes Interesse, Unsicherheiten – und oft ungenügend Möglichkeiten- Antworten auf ihre Fragen zu finden. Die Möglichkeit, Fragen zu stellen, die Verfügbarkeit altersgerechter Literatur und ein sachlicher Umgang mit auf den ersten Blick provokativ oder absurd scheinenden Fragen sind daher wichtig. (Bsp_5 und _6)

Bsp_5
Ein Kind fragt; „Kann man eine Frau zu Tode fi**en.?» – das scheint auf den ersten Blick eine sehr provozierende und gewaltvolle Frage zu sein. Dahinter steckt aber vielleicht die Frage, ob Geschlechtsverkehr Schmerzen verursachen oder gefährlich sein kann. Vielleicht hat das Kind in den Medien von einer brutalen Vergewaltigung gehört oder einen Porno gesehen und sucht einen Weg mit dieser Überforderung umzugehen. Oder das Kind hat in einem Lied etwas Derartiges aufgeschnappt und versucht dies einzuordnen.

Bsp_6
Ein Kind fragt: «Haben Sie schon einmal Sperma geschluckt?» – das scheint auf den ersten Blick eine sehr persönliche und intime Frage zu sein. Dahinter steckt aber vielleicht die Frage, ob es gefährlich sei, Sperma zu schlucken, ob man dadurch schwanger werden könnte, ob es an- oder unangebracht sei oder ein grundsätzliches Interesse an Sperma, bzw. Oralverkehr.

Sexualisieren von Aussagen und Handlungen – Umgang mit sexuellen Aussagen und Handlungen
Nicht sexuelle Handlungen und Aussagen von Kindern sollten nicht sexualisiert und unüberlegt als solche angesprochen werden. Umgekehrt sind gewisse Handlungen von Kindern sexuell und dürfen auch als solche interpretiert werden, was nicht heisst, dass man sie dem Kind gegenüber explizit als solche anspricht. (Bsp_ 7, _8, _9, _10)

Es kann passieren, dass ein Kind eine sexuelle Handlung ausführt, die in einem nicht sexuellen und nicht privaten Kontext nicht in Ordnung ist. In solchen Situationen sollten Lehrpersonen behutsam und mit Bedacht reagieren, damit eventuell unangenehme Situationen aufgelöst und besprochen werden können. Damit ist nicht gemeint, das Verhalten zu tabuisieren, sondern das Kind für die Auswirkungen der Handlung für sich selbst und sein Umfeld zu sensibilisieren und dem Kind altersgerecht Verantwortung für das eigene Handeln zu übertragen. (Bsp_11)

Dass Kinder und Jugendliche untereinander Aussagen und Handlungen sexualisieren, lässt sich nur bedingt vermeiden, kann aber problematisch sein und sollte gegebenenfalls mit ihnen besprochen werden.

Bsp_7
Kinder liegen beim Spielen aufeinander, kuscheln, streicheln sich gegenseitig. Das hat bei einem weit gefassten Begriff mit Sexualität zu tun. Redet man mit den Kindern darüber, dann unbedingt in einer altersgerechten Sprache, der Begriff Sexualität muss da nicht verwendet werden.

Bsp_8
Freundschaften zwischen Kindern werden von Erwachsenen oft überromantisiert. Bei jüngeren Kindern von „flirten“ zu sprechen, ist unangebracht und drückt Interaktionen zwischen Kindern einen unnötigen Stempel auf.

Bsp_9
Ein Kind benutzt den Begriff „Schwanz“ und meint damit korrekterweise das Hinterteil, den Schweif oder die Rute eines Tieres. Die Lehrperson muss lachen und erklärt dies damit, dass sie bei Schwanz an einen Penis gedacht habe. Das ist übergriffig und unprofessionell. Bestimmte Begriffe verbinden Erwachsene mit etwas Sexuellem, Kinder aber nicht. So erzählen Kinder auch, dass sie mit ihrem Kuscheltier schlafen. Dies ist keine passende Situation, das Kind über ein zweites Verständnis von «mit jemandem schlafen» aufzuklären, nur weil es einem als Lehrperson sexualisiert durch den Kopf ging.

Bsp_10
Ein Kind fasst sich oft in den Genitalbereich. Es kann sein, dass sich dies für das Kind gut anfühlt und es sich deshalb zwischen die Beine fasst, dann hat sein Verhalten mit Sexualität zu tun. Vielleicht juckt es das Kind im Genitalbereich, dann hat seine Handlung nichts mit Sexualität zu tun und es wäre für das Kind irritierend, würde ein Erwachsener es darauf ansprechen und sein Verhalten mit Sexualität in Verbindung bringen.

Bsp_11
Ein Kind fasst sich im Unterricht wiederholt gedankenverloren in den Genitalbereich. Das danebensitzende Kind stört dies offensichtlich, aber es getraut sich nicht, dies anzusprechen. Die Lehrperson nimmt das erstere Kind in einem stillen Moment beiseite und spricht das Verhalten an, ohne es dabei zu beschämen oder blosszustellen.

Dieser Text ist ein Versuch, unsere Haltung und Ansprüche festzuhalten. Wir werden Neues dazu lernen, bereits Gelerntes verwerfen. Die Gesellschaft und die Situationen in den Schulen verändern sich – so wird sich auch unser Verständnis und unsere Haltung entwickeln.
Wer gerne Teil dieses Prozesses werden möchte, Fragen oder Kritik hat, kann sich gerne unter kollektiv.krilp@immerda.ch bei uns melden. Wir freuen uns!

Literatur

© Copyright 2023 by Kollektiv Kritische Lehrpersonen